Rückblick 1. Runde Schweizermeisterschaft 21/22

Harte Duelle, faire Gesten Sieben Teams, eine Passion: Rollstuhlrugby. In Nottwil fand das erste Turnier der Schweizer Meisterschaft statt. Ein Augenschein. Die taktischen Anweisungen kommen von einem Routinier. Christian Hähnel erklärt seinen Teamkollegen, wie er sich das im nächsten Spiel vorstellt, auf wen besonders zu achten ist, wie sich der Gegner am ehesten stoppen lässt. Hähnel hat eine erste Partie hinter sich, er half bei den Berner Grizzlies aus, weil denen kurzfristig Personal ausgefallen war. Aber Energie ist bei Hähnel genügend vorhanden, um gleich fortzufahren. Und wenn die Kraft doch nachlässt, ist da ja immer noch seine Erfahrung, mit der sich knifflige Situationen oft meistern lassen. Es ist Samstagmorgen, in der Turnhalle des Schweizer Paraplegiker-Zentrums in Nottwil läuft das erste Turnier im Rahmen der nationalen Meisterschaft - im Rollstuhlrugby. Gastgeber sind die Fighting Snakes, der lokale Verein stellt gleich drei der sieben Teams. Die Dragons, der Gast aus Freiburg im Breisgau, starten ausser Konkurrenz. Zusammenstösse «wie
mit dem Autoscooter» Rollstuhlrugby? Rollstuhlrugby! Klingt ungewohnt. Ist für die Beteiligten fordernd. Und für die Zuschauenden unterhaltend. Spielberechtigt sind alle, die einen manuellen Rollstuhl selber antreiben können - und die an mindestens drei Extremitäten (Armen und Beinen) Einschränkungen aufweisen. Die meisten Teilnehmenden sind Tetraplegiker, in den Teams finden sich auch einige Frauen. Auf dem Feld begegnen sich zwei Vierer-Mannschaften, die das Ziel verfolgen, mit dem Ball über die gegnerische Torlinie zu fahren. Gelingt das, wird ein Goal gutgeschrieben. Unentschieden gibt es keine - gespielt wird, bis eine Entscheidung gefallen ist. Die Duelle werden verbissen geführt, und nicht selten kommt es dabei zu spektakulären Szenen, wenn der Gegner daran gehindert werden soll, sich in die gewünschte Richtung fortzubewegen. Frontale oder seitliche Zusammenstösse gehören zur Normalität, manchmal verursachen sie einen Schaden am Rollstuhl. Dann muss ein Mechaniker das Rad wechseln. «Es fühlt sich an wie mit dem Autoscooter», erklärt Toni Schillig: «Wer das zum ersten Mal sieht, ist ziemlich beeindruckt und erschrickt vielleicht auch. Aber für mich macht die Härte in den Zweikämpfen zu einem grossen Teil den Reiz unseres Sports aus, es geht richtig zur Sache.» Schillig ist mit seinen 44 Jahren einer, der lange schon im Geschäft ist. Mit 19 verunfallte der Walchwiler an einem Kantonale Jungschwingertag schwer, entdeckte als Tetraplegiker aber rasch die Möglichkeit, sich im Rollstuhlrugby sportlich zu betätigen und an körperliche Grenzen zu gehen. Seine Qualitäten als Rugbyspieler verhalfen ihm zum Sprung ins Nationalkader, mit dem er schon an Turnieren auf verschiedenen Kontinenten teilnahm. Schillig spielte - wie Hähnel auch - schon in Ländern wie Neuseeland, den USA oder Kanada. Die meisten Stürze
gehen glimpflich aus Der nächste Trip ins Ausland ist für Ende Februar geplant. Dann findet in Paris die EM statt, an der sich die Schweizer für die WM qualifizieren wollen, die im Oktober in Dänemark ausgetragen wird. Am Turnier in Nottwil an diesem Wochenende halten sich die Ambitionen von Schillig in Grenzen. Mit den Snakes White möchte er gewinnen, das will er grundsätzlich immer, wenn er ein Spiel bestreitet. «Aber an der Schweizer Meisterschaft sind für mich der Spass und die Kameradschaft fast noch wichtiger», sagt er. 4x8 Minuten dauert ein Match, bei einem Unterbruch wird die Zeit angehalten. Innert zwölf Sekunden muss die angreifende Mannschaft mit dem Ball die gegnerische Platzhälfte erreicht haben. Maximal 40 Sekunden darf der Versuch, ein Tor zu erzielen, dauern. Der Ballführende darf den Ball höchstens zehn Sekunden im Schoss behalten, dann muss er ihn prellen oder abspielen. Die Rollstühle sind eigens für diesen Sport angefertigt worden, und eine Auffälligkeit ist die schiefe Stellung der Räder. Das reduziert die Gefahr von Stürzen, verhindert aber nicht ganz, dass es welche gibt. «Das sieht oft böser aus als es in Tat und Wahrheit ist», sagt Schillig, «in den meisten Fällen geht es nach ein paar Sekunden weiter.» Der Sport gibt Hähnel
«ein Stück Lebensqualität» Die nationale Rollstuhlrugby-Szene hat eine überschaubare Grösse. 50 bis 60 Aktive gebe es in er Schweiz, schätzt Christian Hähnel, «wir sind ein kleines Grüppchen, in dem man sich einfach kennt». Dem 39-Jährigen, der seit einem Turnunfall 2002 querschnittgelähmt ist, gibt der Sport «ein Stück Lebensqualität». Er hatte als Jugendlicher schon den steten Drang, sich regelmässig zu bewegen, er hat diese Lust auch im Rollstuhl beibehalten und ist glücklich, mit dem Rugby eine ideale Option gefunden zu haben: «Ich habe eine grosse Leidenschaft dafür entwickelt. Der Sport gibt mir sehr viel und trägt zu meinem Wohlbefinden bei.» Ähnlich klingt es von Roger Suter, der seit Jahren Mitglied der Fighting Snakes ist und einst als Nationaltrainer amtete. Der 54-Jährige, der 1986 einen Autounfall erlitt und seither auf den Rollstuhl angewiesen ist, betont, dass der Sport generell positiven Einfluss auf seine Rehabilitation, aber auch auf sein Selbstvertrauen hatte. Noch immer ist er aktiv, noch immer mag er die strategische Herausforderungen, die das Spiel an die Teams stellt. Und eines darf an Anlässen wie diesem in Nottwil nicht zu kurz kommen: das Gesellige. So hart es gelegentlich zugehen kann, so kollegial ist der Umgang untereinander auf dem Spielfeld. Ein nettes Wort zum Gegner darf sein, eine Niederlage wird klaglos akzeptiert. Rollstuhlrugby kann brachial wirken, aber für eine faire Geste ist immer Platz. Text: Peter Birrer. Erschienen in der Luzerner Zeitung vom 6.12.21

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Schweizer Paraplegiker Vereinigung SPV
TK Rollstuhlrugby
Kantonsstrasse 40
CH-6207 Nottwil